Die meisten von uns Motoristen haben eine geheime ‘Bucket List’ im Hinterkopf – magische Orte, die man unbedingt selbst einmal im Leben erfahren möchte. Sei es der einsamste Highway, die höchst befahrbare Straße im Nirgendwo, die kurvigsten 100 Kilometer – oder wie in meinem Fall, den schnellsten Ort der Welt (siehe auch BRUMMM #03).
Die riesigen ausgetrockneten Salzseen im US-Bundesstaat Utah sind definitiv einer der Orte auf unserem Planeten, an dem mit über 1.000 km/h die höchsten Geschwindigkeiten zu Lande gefahren werden. Zwar sind von den einstigen 35.000 Quadratmetern Salzfläche des ehemaligen Lake Bonneville Anfang des vorigen Jahrhunderts nicht mal mehr die Hälfte davon übrig, da seit 1917 durch den Abbau von Kalisalz zur Verwendung als Düngemittel sowohl die Größe der Fläche als auch die Dicke der Salzschicht der ‘Salt Flats’ stark verringert ist. Kommt dann noch Regen hinzu, wie in den letzten Jahren mehrmals geschehen, dauert es um Einiges länger als in früheren Jahren, bis das Wasser im Salzboden versickert und es fraglich ist, ob die ‘Speed Week’, traditionell in der zweiten Augustwoche, stattfinden kann.
Vor dieser Frage stehen wir nach langer Vorfreude kurz vor unserem Flug nach Salt Lake City nun selbst und verfolgen deshalb gebannt die täglichen Status-Meldungen der veranstaltenden ‘Southern California Timing Association‘ (SCTA). Denn wenige Tage zuvor gab es ungewöhnlich viel Niederschlag, so dass die Durchführung der 75-jährigen Jubiläumsausgabe nach wochenlanger Trockenzeit auf einmal auf der Kippe steht.
Angekommen am Freitag Nachmittag in der Hauptstadt Utahs, die 1847 von den streng religiösen Mormonen gegründet wurde – und übrigens alle Suchtmittel wie Alkohol, Tabak und selbst Kaffee verteufeln, aber polygamische Mehrehe cool finden – holt uns mein Kumpel Jared Zaugg freundlicherweise am Flughafen ab und versorgt uns mit ‘local insights’ zu aktuellen Wasserstandsmeldungen. Es bleibt weiterhin spannend, denn an den geplanten Start der ‘Speed Week’ am Samstag ist nicht zu denken, es wird erstmal weiter verschoben.
Ursprünglich war unser grober Plan direkt von Salt Lake City aus die 200 Kilometer nach Westen zu starten, vom Örtchen Wendover aus für ein paar Tage das Treiben auf dem Salz zu erleben, bevor unser Trip über die Klassiker Bryce Canyon, Grand Canyon, Las Vegas in das immersonnige Los Angeles führen sollte. Aber wie so oft bei Reisen mit dem Motorrad, erweist sich nun Spontaneität als bester Routenplaner.
Da stehen sie nun wie aus dem Ei gepellt vor uns: zwei nagelneue Indian Touring Presse-Fahrzeuge, eine weinrote Pursuit Limited Premium ICON-Edition mit 1800 Kubikzentimeter PowerPlus-Motor der Challenger-Modellreihe sowie eine Chieftain Dark Horse mit 1900 Kubik Thunderstroke-Motor in schickem Grau für meine Schwester Maria. Passender als mit diesen großvolumigen ‘American-V-Twin-Luxusdampfer’ kann man wohl kaum auf einen ausgedehnten US-Trip gehen.
Nachdem wir unser Gepäck im riesigen Stauraum der Bikes locker untergebracht haben, machen wir uns an die Planung. Schließlich haben wir nun ja unverhofft ein paar Tage zur Verfügung, bevor es nach Bonneville gehen wird. Also – warum nicht erst einmal in Richtung Norden fahren, zum Yellowstone Nationalpark? Spero Politis von der Wasatch Indian Dealership ‘Moto United’ im Stadtteil Draper, der dankenswerterweise die Fahrzeuge aus dem Werk in Minneapolis entgegennahm und für unsere Tour vorbereitete, versorgt uns mit wertvollen Tipps abseits der allgemeinen GPS-Führung der Indians. Dann geht’s endlich los.
Vorsichtig fahren wir die 415 (Pursuit) und 360 Kilogramm (Chieftain) schweren Dampfer vom Hof, betanken sie erstmal nebenan und starten unsere Reise auf der Route 89 in Richtung Brigham City, Logan, Bear Lake. Auf den ersten Meilen freunden wir uns schnell mit den Dickschiffen an, denn wenn sie erstmal rollen, ist das Handling der Bikes mit Sofa-ähnlicher Sitzposition, höhenverstellbarer Windschutzscheibe, Infotainment-Sound-System und sonstigem elektronischen Schnickschnack sehr geschmeidig.
Wie in den besten Roadmovies ziehen XXXL-Wälder, -Flüsse und -Berge an uns vorbei, wir sehen unzählige Farmen mit ausgemusterten Schrottfahrzeugen vor den Veranden, überholen Wohnmobile so groß wie Linienbusse mit teils zwei Anhängern beladen mit fahrbaren Outdoor-Spielzeugen, essen in Diner-Restaurants wie aus den 60er-Jahren, schlafen in Motels und frühstücken dabei so gut wie immer auf Wegwerf-Geschirr – und das selbst in Vier-Sterne-Hotels.
Ein absolutes Highlight ist die Fahrt durch den landschaftlich wirklich grandiosen Yellowstone Nationalpark, was sich aber an einem Ferien-Samstag streckenweise als zähe Stau-Partie entpuppt, zumal sich die breiten Seitenkoffer nicht wirklich zum ‘Lane Splitting’ eignen. Also heißt es, schön in der Auto-Kolonne einreihen und teils im Stau an Aussichtsplattformen, heißen Quellen und sonstigen Sehenswürdigkeiten vorbeituckern.
Nach einigen kurvenlosen Stunden auf der State Route 30 kommen wir am dritten Tag in der Nevada-Seite von Wendover an – mitten durch den Ort verläuft nämlich die Grenzlinie zu Utah. Am Straßenrand parken Roadster, Muscle Cars, Belly Tankers und alte Hotrods in Salzkruste flanieren auf der Haupstraße auf und ab – die internationale Speed-Szene ist schon längst vor Ort und scharrt am Parkplatz hinter einem Supermarkt mit den Hufen, bis sie endlich raus aufs Salz kann. Unser ‘Motel 6’ liegt im Mormonen-Teil der Kleinstadt, jenseits der großen Hotels und Casinos. Schnell checken wir ein und fahren gleich danach wieder auf der Interstate 80 ein paar Meilen weiter an den heiligen Ort, dem Bonneville Speedway.
Am Ende der Zubringerstraße ist ein kleiner Wendeplatz, wir parken unsere Schiffe am Fotospot mit Bonneville-Schild und starren wie viele andere Pilger erstmal auf eine riesige, knöcheltiefe Wasserfläche. Wir lernen Willi kennen, ein redseliger Ex-Hamburger, der seit Jahren in Kalifornien lebt und angeblich viele Jahre selbst mit verschiedenen Hotrods hier auf Rekordjagd ging. Er gibt uns erstmal einen Crash-Kurs: dass am Abend eine Hotrod-Show am Nugget-Casino-Parkplatz stattfindet; wir danach unbedingt in Carmen’s Black & White Bar kommen sollen (Treffpunkt aller Salt Racers); dass die ca. 18 Kilometer lange Rennstrecke geschlossen bleiben und nur auf dem 5 Kilometer kurzen Track gefahren werden wird; vom alten Fahrer-Ritual zur Begrüßung ein gekochtes Ei mitzubringen und mit Salz des Bodens auf eine gute Woche anzustoßen; und und und.
Am Montag morgen sickert die Info durch, dass das Fahrerlager am Salzsee geöffnet werden kann. Bis auf die superschnellen Raketenautos, denen die 5 Kilometer-Rennstrecke viel zu kurz ist, zieht das gesamte Supermarkt-Lager rüber auf den See. Wir können trockenen Fußes auf der Ladefläche eines Pickups mit zum drei Kilometer entfernten Fahrerlager fahren und staunen erst mal über diese unwirkliche weiße Wüste, die immense Größe der Salzfläche und das gleißende Licht, das durch den reflektierenden Salzboden und dem wolkenlosen blauen Himmel ohne Sonnenbrille kaum zu ertragen ist. Bestmöglich mit Sonnencreme beschmiert waten wir durchs noch nasse Fahrerlager, das sich wie rutschiger Schneematsch anfühlt, sprechen mit Rennteams über die technischen Raffinessen ihrer Eigenbauten und den Herausforderungen bei der Motor-Abstimmung in 1.300 Meter Meereshöhe (viele Teams testeten nämlich kürzlich noch auf dem ausgetrockneten See in El Mirage (Kalifornien), dessen Sandboden auf nur 350 Meter ü.M. liegt).
Nach vier Tagen Verschiebens ist es am Dienstag dann endlich soweit und das Salz wird freigegeben. Bei der Fahrerbesprechung werden die aktuellen Besonderheiten der Piste und der Ablauf der Trainings- und Rekordfahrten erklärt, Rookies erhalten Anweisungen für ihre ersten Bewährungsfahrten in vorgeschriebenen Geschwindigkeitsfenster. In einer langen Warteschlange stellen sich die Teams vom Fahrerlager bis zum Startbereich geduldig an, bereiten sich an der gut 30 Meter breiten Startlinie nebeneinander vor und starten der Reihe nach zu ihren ersten Trainingsfahrten. Die Stimmung ist familiär, wie beim Klassentreffen begrüßen sich Fahrer und Start Marshals. Alle freuen sich, dass nach langer Vorbereitungszeit die Speed Week gefahren werden kann.
Die Strecke ist relativ gut abgetrocknet, aber dennoch ist die oberste Schicht – zumindest auf den ersten hundert Metern – noch feucht und matschig, was einige Motorräder beim Anfahren ziemlich schlingern lässt, Stürze bleiben auch nicht aus. Generell ist die Piste viel unebener und huckeliger, als man sich das vorstellt und so gehört schon eine gehörige Portion Mumm dazu, mit Vollgas über die Salzkruste zu brettern.
Ein ziemlich breites Spektrum an Fahrzeugen und Typen geht an den Start, alle sind sie getrieben vom Mythos Bonneville und dem inneren Drang, mit ihren meist selbstgebauten Vehikeln so schnell wie nur möglich zu fahren – auch wenn es ‘nur’ ein neuer Rekord über 50 km/h mit einer Velosolex eines Franzosen sein wird, der mit Frau und Tochter im Wohnmobil durch die USA reist und seine hochgezüchtetes Mofa mal so richtig ausfahren möchte. Oder der Japaner ‘Sushi’ Yasui, der mit gleich zwei Knuckleheads in verschiedenen Klassen Rekorde bricht (ca. 230 km/h), oder Ryo Tomisato mit einer von Shinya Kimura gebauten Triumph einen neuen Rekord von ca. 190 km/h in seiner Klasse aufstellt.
Auf den Spuren von Burt Munro sind zwei Indian Teams am Start, Sean Schwefel mit einer auf 2.150 ccm aufgebohrten Chief und Wayne Kolden mit einer Turbolader-Chief. Beide können in ihren Klassen neue Rekorde aufstellen, ca. 225 km/ (Schwefel) und 302 km/h (Kolden). Ein absoluter Hingucker sind die extrem flachen Triumphs von Alp Sungurtekin, der zwar neue Rekorde verfehlt, aber ein supernetter und positiv durchgeknallter Speed-Nerd ist, wie ich beim abendlichen Plausch auf unserem Motel-Parkplatz feststellen kann, wo er und einige andere Teams untergebracht sind, die gern auch mal ein gemeinsames Feierabendbier einnehmen und dabei allerhand ‘Salt-Fever-Stories’ auspacken.
Zu gerne würden wir noch länger an diesem magischen Ort bleiben wollen, aber leider bleiben uns nur noch wenige Tage, um nach Los Angeles zu fahren, weswegen wir am Mittwoch Morgen weiter ziehen. Beseelt von den Erlebnissen und mit unzähligen Eindrücken im Kopf geht es auf der Route 50, dem angeblich einsamsten Highway der Welt in Richtung Bryce Canyon. Nach einer Nacht im Skyview Hotel in Torrey, in dessen Glamping-Zelten mit gläsernen Dächern ein sagenhafter Sternenhimmel beobachtet werden kann, geht es weiter auf dem unglaublich schönen Bilderbuch-Scenic-Highway Nummer 12 und durch den Dixie National Park, mit einem Abstecher in den kleinen Kodachrome Basin State Park, der seinen Namen wegen der farbenprächtigen Kodak-Diafilm-ähnlichen Felsformationen aufgestempelt bekommen hat.
Von den hohen Temperaturen der langen Tagesetappe geschafft, cruisen wir im Sonnenuntergang auf der Interstate 15 in die ‘Stadt der Sünde’. Im besten Abendlicht fahren wir den Las Vegas Boulevard ins Zentrum zum riesigen Harrah’s Hotel mit Casino (oder besser gesagt, Casino mit Hotel), vorbei an zahlreichen gut besuchten Wedding-Chapels, Liquor-Stores, altbekannten Casinos und dem kürzlich eingeweihtem ‘Sphere’, einer riesigen Konzert- und Eventkugel, deren Millionen LEDs an der Außenhaut ein imposantes Lichtspiel liefert. Nach einem abendlichen Flaniergang auf dem Boulevard, dessen Extreme zwischen Show und Realität in allen Lebensbereichen nicht krasser sein könnten, fallen wir hundemüde ins Bett. Las Vegas muss man mal gesehen haben, reicht dann aber auch schnell wieder.
Weiter gehts dann entlang der Mojave Wüste, über Barstow und der kurvigen Bergroute 2 nach Pasadena, wo wir eine Nacht verbringen. An den letzten beiden Tagen unseres 12-tägigen Roadtrips treffen wir dann in Los Angeles noch ein paar Freunde und Bekannte, bevor wir zur letzten Übernachtung nach Long Beach weiterfahren. Bei einem Zwischenstopp an der University of California in Irvine bei Costa Mesa sind wir noch mit Smitty und Amy des ‘Red Baron Racing Teams’ verabredet, die wir in Bonneville kennengelernt hatten: Robert ‘Smitty’ Smith, ein ehemaliger Sportpilot und Ingenieur an der Uni, bastelt seit Jahren an seiner 350 ccm Moto Morini mit Turbolader und Seitenwagen herum, mit der seine Studentin Amy Dunford in Bonneville einen neuen Rekord von 93.224 miles/hour (ca. 150 km/h) aufgestellt hat. Dieses sympathische Duo steht symbolhaft für so viele Bonneville-Teams, die mit ihrer Leidenschaft, jahrelanger Bastelei, ständiger Optimierung und dem erlebnisreichen Ausbrechen aus ihrem Alltagsleben keine Grenzen an Zeit und Geld sehen. Oder wie Anthony Hopkins im Burt Munro-Bonneville Film so treffend sagt: „Du lebst in fünf Minuten Vollgas auf einem Motorrad wie diesem mehr als manche Leute in ihrem ganzen Leben.“ Das stimmt sicherlich, aber gemütlich 3.400 Kilometer durch Utah, Idaho, Montana, Wyoming, Nevada, Arizona und Kalifornien auf Indian-Luxusdampfer zu reisen und dabei einen magischen Ort seiner Bucket List zu besuchen, ist ein mindestens genauso gutes Erlebnis.
Großer Dank an Indian Motorcycles für die Bereitstellung der beiden Motorräder!
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